Verkauft der Erbe eine zum Nachlass gehörende Immobilie, kann der Verkaufspreis ein Indiz für den für die Pflichtteilsberechnung maßgeblichen Wert zum Stichtag Todestag bilden. Trägt der Pflichtteilsberechtigte konkrete Anhaltspunkte für einen höheren Wert vor, muss das Gericht dem nachgehen. Liegen zwei sich widersprechende Wertgutachten vor, darf das Gericht nicht ohne logisch nachvollziehbare Begründung einem der beiden Gutachten den Vorzug geben.
Bei der pflichtteilsrechtlichen Bewertung eines Nachlassgrundstücks kommt eine Bindung an den tatsächlich erzielten Verkaufspreis dann nicht mehr in Betracht, wenn der darlegungs- und beweispflichtige Pflichtteilsberechtigte Tatsachen vorträgt und unter Beweis stellt, nach welchen der Verkaufserlös nicht dem tatsächlichen Verkehrswert im Zeitpunkt des Erbfalles entspricht. Der Tatrichter kann bei mehreren sich widersprechenden Gutachten den Streit der Parteien nicht dadurch entscheiden, dass er ohne einleuchtende und logisch nachvollziehbare Begründung einem von ihnen den Vorzug gibt. Diese Leitsätze stellte der Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 08.04.2015 auf (Aktenzeichen IV ZR 150/14).
In der Begründung führt der BGH aus:
„1. Zutreffend ist das Berufungsgericht zunächst von den Grundsätzen der Wertbemessung ausgegangen. Gemäß § 2311 Abs. 1 Satz 1 BGB werden bei der Berechnung des Pflichtteils der Bestand und der Wert des Nachlasses zur Zeit des Erbfalles zugrunde gelegt. Der Pflichtteilsberechtigte ist wirtschaftlich so zu stellen, als sei der Nachlass beim Tod des Erblassers in Geld umgesetzt worden (Senatsbeschluss vom 25. November 2010 – IV ZR 124/09, ZEV 2011, 29 Rn. 5; Senatsurteile vom 14. Oktober 1992 – IV ZR 211/91, NJW-RR 1993, 131 unter I 2 a; vom 13. März 1991 – IV ZR 52/90, NJW-RR 1991, 900). Abzustellen ist auf den so genannten gemeinen Wert, der dem Verkaufswert im Zeitpunkt des Erbfalles entspricht. Da derartige Schätzungen mit Unsicherheiten verbunden sind, entspricht es der ständigen Rechtsprechung des Senats, dass sich die Bewertung von Nachlassgegenständen, die bald nach dem Erbfall veräußert worden sind, von außergewöhnlichen Verhältnissen abgesehen, grundsätzlich an dem tatsächlich erzielten Verkaufspreis orientieren muss (Senatsbeschluss vom 25. November 2010 aaO; Senatsurteile vom 14. Oktober 1992 aaO unter I 2 b; vom 13. März 1991 aaO; Staudinger/Herzog, BGB (2015) § 2311 Rn. 102).
Die Maßgeblichkeit des Veräußerungserlöses ist nicht auf die Fälle beschränkt, in denen der Veräußerungserlös über dem Schätzwert des Gutachters liegt. Der Senat hat bereits mehrfach ausdrücklich klargestellt, dass der tatsächlich erzielte Preis ein wesentlicher Anhaltspunkt für die Schätzung des Verkehrswerts gemäß § 287 ZPO auch dann ist, wenn er niedriger ausfällt als anhand allgemeiner Erfahrungswerte zu erwarten gewesen wäre (Senatsbeschluss vom 25. November 2010 aaO Rn. 6; Senatsurteil vom 14. Oktober 1992 aaO). Ein Abstellen auf den tatsächlichen Veräußerungserlös ist grundsätzlich auch dann noch zulässig, wenn – wie hier – zwischen Erbfall und Veräußerungszeitpunkt ein Zeitraum von drei Jahren liegt (vgl. Senatsbeschluss vom 25. November 2010 aaO Rn. 10).
2. Unter Verstoß gegen den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG hat das Berufungsgericht allerdings übersehen, dass eine Bindung an den tatsächlich erzielten Verkaufspreis dann nicht mehr in Betracht kommt, wenn der darlegungs- und beweispflichtige Pflichtteilsberechtigte Tatsachen vorträgt und unter Beweis stellt, nach welchen der Verkaufserlös nicht dem tatsächlichen Verkehrswert im Zeitpunkt des Erbfalles entspricht. Dem Pflichtteilsberechtigten kann es nicht verwehrt werden nachzuweisen, dass der erzielte Veräußerungserlös nicht dem tatsächlichen Verkehrswert entspricht (vgl. Senatsbeschluss vom 25. November 2010 aaO Rn. 7, 12; Staudinger/Herzog aaO Rn. 105). Hier hat der Kläger unter Beweisantritt vorgetragen, dass sich der Wert des streitgegenständlichen Grundstücks im Zeitpunkt des Erbfalles auf 2 Mio. € belief (vgl. etwa Schriftsatz vom 14. Juli 2011 S. 13 f.). Dazu hat der Kläger ergänzend Bezug genommen auf das Gutachten des Sachverständigen Z. vom 13. April 2007, der den Wert des Grundstücks zum Zeitpunkt des Todes der Erblasserin auf 2 Mio. € festgesetzt hatte, sowie auf das vom Beklagten eingeholte Gutachten des Sachverständigen V. vom 19. März 2011, der für den Tag der Veräußerung des Grundstücks am 28. Oktober 2009 den Verkehrswert mit 2,1 Mio. € ermittelt hatte.
Diesem Beweisantritt des Klägers musste das Berufungsgericht nachgehen und durfte sich nicht damit begnügen, dass der vom Käufer des Grundstücks eingeschaltete Gutachter Dr. G. den Verkehrswert für den Zeitpunkt des Verkaufs am 28. Oktober 2009 auf 1,31 Mio. € sowie der Sachverständige B. in einem von dem Beklagten gegen die Erwerberin geführten Rechtsstreit ebenfalls zum Veräußerungsstichtag einen Wert von 1,38 Mio. € ermittelt hatte. Der Tatrichter kann bei mehreren sich widersprechenden Gutachten den Streit der Parteien nicht dadurch entscheiden, dass er ohne einleuchtende und logisch nachvollziehbare Begründung einem von ihnen den Vorzug gibt (Senatsbeschlüsse vom 12. Januar 2011 – IV ZR 190/08, VersR 2011, 552 Rn. 5; vom 18. Mai 2009 – IV ZR 57/08, VersR 2009, 975 Rn. 7). Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts kommt es nicht darauf an, ob bei Vorliegen zweier Gutachten mit einem geringeren Wert nicht davon ausgegangen werden könne, dass es sich bei dem vom Testamentsvollstrecker erzielten Kaufpreis nicht um einen solchen gehandelt habe, der im gewöhnlichen Verkehr als zu niedrig bemessen anzusehen wäre. Maßgebend für die Wertbemessung nach § 2311 Abs. 1 Satz 1 BGB ist der objektive Wert des Nachlasses im Zeitpunkt des Erbfalles. Dieser kann sich zwar grundsätzlich an dem erzielten Verkaufspreis orientieren. Legt der Pflichtteilsberechtigte aber – wie hier der Kläger – mit Substanz dar, dass der tatsächliche Wert im Zeitpunkt des Erbfalles nicht dem des erzielten Verkaufspreises entspricht, so muss der Tatrichter dem nachgehen, soweit es sich nicht um bloße Behauptungen „ins Blaue hinein“ handelt. Davon kann hier angesichts der vom Kläger vorgelegten Sachverständigengutachten sowie der vom Berufungsgericht selbst für „höchst ungewöhnlich“ erachteten Umstände der Ermittlung des Kaufpreises des Grundstücks nicht ausgegangen werden.“