Das Oberlandesgericht Hamm (Beschluss vom 26.04.2024 – 10 W 114/23) hat klargestellt, dass bei der Beurteilung der Testierfähigkeit eines Erblassers die Aussagen von medizinischen Laien keine entscheidende Rolle spielen. Die Beweiswürdigung des Gerichts orientiert sich maßgeblich an der Einschätzung eines fachärztlichen Sachverständigen.

Der Fall: Streit um die Gültigkeit eines Testaments
Der Erblasser, geboren 1934, hatte am 15.02.2016 ein handschriftliches Testament errichtet, in dem er seinen Nachlass unter seinen drei Kindern und mehreren Enkelkindern aufteilte. Im Jahr 2017 erlitt er eine Hirnblutung und im Jahr darauf eine Herpesenzephalitis, die zu schwerwiegenden kognitiven Beeinträchtigungen führte.
Am 23.05.2019 errichtete der Erblasser ein weiteres Testament, in dem er seine Kinder als Erben zu gleichen Teilen einsetzte und von der ursprünglichen Erbverteilung abwich.
Nach dem Tod des Erblassers kam es zum Streit:
- Die Tochter des Erblassers machte geltend, dass ihr Vater zum Zeitpunkt der Testamentserrichtung testierunfähig gewesen sei.
- Der Sohn verteidigte das spätere Testament und führte an, dass der Erblasser bis 2019 geistig fit gewesen sei.
Das Amtsgericht Minden sah die Testierunfähigkeit des Erblassers im Jahr 2019 als erwiesen an und erkannte das Testament von 2016 als gültig an. Die Beschwerde des Sohnes blieb ohne Erfolg.
Die Entscheidung des OLG Hamm: Beweislast und medizinische Beurteilung
Das OLG Hamm bestätigte die Entscheidung des Amtsgerichts und hob drei wesentliche Aspekte hervor:
1. Wer Testierunfähigkeit behauptet, muss sie beweisen
📌 Grundsatz aus § 2229 Abs. 4 BGB:
- Testierunfähig ist, wer aufgrund einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit oder Bewusstseinsstörung die Bedeutung seiner letztwilligen Verfügung nicht erkennen kann.
- Derjenige, der sich auf Testierunfähigkeit beruft, trägt die Beweislast.
- Es ist nicht erforderlich, dass der Erblasser völlig geschäftsunfähig ist – es genügt, wenn krankhafte Einflüsse seine Willensbildung entscheidend beeinträchtigen.
📌 Das OLG Hamm stellte fest:
- Der gerichtlich bestellte psychiatrische Sachverständige kam zu dem Ergebnis, dass der Erblasser im Mai 2019 nicht mehr in der Lage war, seinen Nachlass sachgerecht zu regeln.
- Die Alzheimer-Demenz war bereits weit fortgeschritten und durch die Hirnblutung sowie die Herpesenzephalitis zusätzlich verschärft.
- Der Erblasser litt unter schweren Gedächtnis- und Orientierungsproblemen.
✅ Ergebnis: Die Beweislast war erfüllt, das Testament von 2019 war unwirksam.
2. Laienmeinungen sind nicht maßgeblich für die Testierfähigkeit
📌 Keine Beweislastumkehr durch Laienzeugnisse:
- Der Sohn berief sich auf Zeugenaussagen von Bekannten und Bankangestellten, die den Erblasser als „normal“ erlebt hätten.
- Das Gericht stellte jedoch klar, dass subjektive Einschätzungen von Laien nicht ausreichen, um eine fachärztliche Beurteilung zu widerlegen.
- Entscheidender sind ärztliche Berichte, neurologische Tests und sachverständige Einschätzungen.
📌 Das OLG Hamm betonte:
- Die Fähigkeit, alltägliche Tätigkeiten wie Autofahren oder Einkaufen auszuführen, ist kein Beweis für Testierfähigkeit.
- Auch Personen mit kognitiven Einschränkungen können in bekannten Situationen „normal“ erscheinen, sind aber dennoch nicht in der Lage, komplexe Entscheidungen zu treffen.
✅ Ergebnis: Zeugenaussagen von Laien sind für die Frage der Testierfähigkeit nur von begrenztem Wert.
3. Keine erneute Beweisaufnahme erforderlich
📌 Förmliche Beweisaufnahme nur bei wesentlichen Zweifeln:
- Das OLG entschied, dass eine erneute Beweisaufnahme nicht erforderlich ist, wenn bereits ein ausführliches Sachverständigengutachten vorliegt.
- Das Gericht ist nicht verpflichtet, jede unbewiesene Behauptung weiter zu untersuchen.
- Zweifel müssen konkret und plausibel begründet sein, um eine erneute Beweisaufnahme zu rechtfertigen.
✅ Ergebnis: Der Sachverständige bestätigte schlüssig die Testierunfähigkeit des Erblassers, sodass keine weiteren Ermittlungen erforderlich waren.
Bedeutung für die Praxis
Die Entscheidung des OLG Hamm unterstreicht:
✅ Testierfähigkeit erfordert mehr als bloße Alltagskompetenz – auch wer alltägliche Aufgaben bewältigt, kann testierunfähig sein.
✅ Zeugenaussagen von Laien reichen nicht aus, um ein medizinisches Gutachten zu widerlegen.
✅ Eine erneute Beweisaufnahme ist nur erforderlich, wenn konkrete Zweifel an der bisherigen Beweiswürdigung bestehen.
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