Erbrechtliche Besonderheiten bei der Berufung im Zivilprozess

Tobias Goldkamp
Veröffentlicht am 7. November 2024 von Tobias Goldkamp

Die Berufung im erbrechtlichen Zivilprozess ist mit spezifischen Herausforderungen verbunden, die über die allgemeinen prozessualen Anforderungen hinausgehen. Erbrechtliche Streitigkeiten betreffen häufig Besonderheiten wie die Auslegung letztwilliger Verfügungen, die Feststellung der Testierfähigkeit oder die Abwehr von Pflichtteilsansprüchen. Dieser Beitrag beleuchtet einige Aspekte, die bei einer Berufung in erbrechtlichen Verfahren zu beachten sind.

1. Auslegung von letztwilligen Verfügungen

Eine zentrale Herausforderung in erbrechtlichen Berufungsverfahren ist die Auslegung von Testamenten und anderen letztwilligen Verfügungen. Das erstinstanzliche Gericht trifft häufig Entscheidungen auf Basis einer bestimmten Auslegung. Die Auslegung des erstinstanzlichen Gerichts hat jedoch keine bindende Wirkung für das Berufungsgericht. Das Berufungsgericht ist berechtigt und verpflichtet, eine eigene Auslegung der im angefochtenen Urteil festgestellten Erblassererklärung vorzunehmen. Dabei kommt es darauf an, den Willen des Erblassers so genau wie möglich zu ermitteln, was unter Berücksichtigung sämtlicher relevanter Umstände zu erfolgen hat.

2. Testierfähigkeit und Beweiswürdigung

Ein weiteres zentrales Thema im erbrechtlichen Berufungsverfahren ist die Testierfähigkeit des Erblassers. Die Feststellung der Testierfähigkeit erfordert häufig die Einholung von Sachverständigengutachten, die in der Berufungsinstanz kritisch überprüft werden können. Zweifel an der Richtigkeit eines erstinstanzlich eingeholten Gutachtens können eine erneute Beweisaufnahme in der Berufungsinstanz erforderlich machen.

3. Pflichtteilsansprüche und Anrechnungen

In der Berufungsinstanz können auch Pflichtteilsansprüche und die Anrechnung von Vorempfängen oder Schenkungen thematisiert werden. Hierbei kann es um die Frage gehen, ob und in welchem Umfang bestimmte Zuwendungen des Erblassers auf den Pflichtteil anzurechnen sind. Auch die Geltendmachung von Pflichtteilsergänzungsansprüchen nach § 2325 BGB, die sich auf Schenkungen des Erblassers innerhalb von zehn Jahren vor seinem Tod beziehen, kann in der Berufung relevant werden.

4. Teilurteile bei Pflichtteilsstufenklagen

Bei Stufenklagen im Pflichtteilsrecht, in denen zunächst Auskunft über den Nachlass und später Zahlung verlangt wird, ist besondere Vorsicht geboten. Ein Teilurteil, das nur über einen Teil des Anspruchs entscheidet, kann problematisch sein, wenn noch nicht alle wesentlichen Fragen, wie etwa die Anrechenbarkeit von Schenkungen, geklärt sind. Das Berufungsgericht muss daher prüfen, ob die Entscheidung über den gesamten Anspruch in der zweiten Instanz möglich ist oder ob eine Zurückverweisung an das erstinstanzliche Gericht erforderlich ist.

5. Neue Beweismittel und Gestaltungsrechte

Ein besonderes Augenmerk in der Berufungsinstanz liegt auf neuen Beweismitteln und Gestaltungsrechten. Beispielsweise kann ein erst nach der ersten Instanz aufgefundenes Testament als neues Beweismittel in der Berufung eingebracht werden. Auch der Vorbehalt der beschränkten Erbenhaftung (§ 780 ZPO), der es dem Erben ermöglicht, seine Haftung auf den Nachlass zu beschränken, kann erstmals in der Berufungsinstanz geltend gemacht werden, sofern die zugrundeliegenden Tatsachen unstreitig sind.

5. Prozessuale Taktik und Kostenrisiken

Schließlich spielen in erbrechtlichen Berufungsverfahren auch prozesstaktische Überlegungen und das Kostenrisiko eine wichtige Rolle. Wenn eine Partei in der Berufung neue Klagegründe oder Beweismittel vorbringt, die sie in der ersten Instanz bereits hätte geltend machen können, kann das Berufungsgericht trotz Obsiegens die Kosten des Verfahrens der Partei auferlegen (§ 97 Abs. 2 ZPO). Daher ist eine sorgfältige Prüfung aller prozessualen Schritte im Vorfeld der Berufung entscheidend.

6. Lesetipp für Profis

Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten empfehle ich meine vertiefenden Fachaufsätze Berufungsverfahren im Erbrecht (ErbR 2024, 580) und Berufungsbegründung im erbrechtlichen Zivilprozess (ErbR 2020, 758).

Fazit

Die Berufung im erbrechtlichen Zivilprozess erfordert ein tiefes Verständnis sowohl der materiell-rechtlichen als auch der prozessualen Besonderheiten. Rechtsanwälte sollten insbesondere die Auslegung letztwilliger Verfügungen, die Prüfung der Testierfähigkeit, die Anrechnung von Pflichtteilsergänzungsansprüchen und die Einführung neuer Beweismittel in der Berufungsinstanz sorgfältig berücksichtigen. Eine fundierte Vorbereitung und strategische Prozessführung sind unerlässlich, um die Erfolgsaussichten in der Berufungsinstanz zu maximieren.

Tobias Goldkamp

Tobias Goldkamp
Fachanwalt für Erbrecht
Tel. 02131/718190

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