Das OLG Hamm entschied, dass die Entziehung des Pflichtteils bei Verurteilungen wegen Straftaten nicht automatisch gerechtfertigt ist und eine genaue Abwägung des Einzelfalls erfordert (Urteil vom 7. März 2024, Az.: 10 U 44/23). Im Mittelpunkt der Entscheidung stand die Verurteilung des Klägers zu einer Jugendstrafe von drei Jahren und sechs Monaten wegen schweren Raubes und die Frage, ob dies eine Unzumutbarkeit der Nachlassbeteiligung für den Erblasser begründet.
Die Entscheidung verdeutlicht, dass eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr gemäß § 2333 Abs. 1 Nr. 4 BGB zwar eine Grundlage für die Entziehung sein kann, doch stets die individuellen Umstände und die Unzumutbarkeit für den Erblasser zu prüfen sind.
1. Rechtsgrundlagen zur Pflichtteilsentziehung
Die Pflichtteilsentziehung ist ein rechtliches Instrument, das dem Erblasser ermöglicht, den Pflichtteil zu entziehen, wenn bestimmte Gründe vorliegen. So kann die Entziehung des Pflichtteils u. a. wegen einer rechtskräftigen Verurteilung des Pflichtteilsberechtigten zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr erfolgen, wenn dessen Teilhabe am Nachlass dem Erblasser unzumutbar ist.
- Kasuistische Aufzählung der Entziehungsgründe: Die Gründe zur Pflichtteilsentziehung sind abschließend und daher nicht analog erweiterbar.
- Formelle Anforderungen: Der Erblasser muss die Entziehungsgründe konkret im Testament oder Erbvertrag angeben. Ein vager Hinweis oder eine allgemein gehaltene Formulierung reichen nicht aus. Der Sachverhalt muss so konkret beschrieben sein, dass keine Zweifel an den wesentlichen Umständen bestehen.
Im vorliegenden Fall waren die formellen Anforderungen für eine Pflichtteilsentziehung erfüllt, da der Erblasser und seine Ehefrau im Testament die Straftat des schweren Raubes benannten und die Entziehung auf diese Tat stützten. Das OLG Hamm stellte fest, dass die schlagwortartige Bezeichnung einer schweren Straftat ausreichend ist, sofern die Straftat deutlich und spezifisch im Testament angegeben wird.
2. Unzumutbarkeit der Nachlassbeteiligung
Das OLG Hamm betonte, dass nicht jede schwere Straftat automatisch zur Unzumutbarkeit der Nachlassbeteiligung führt. § 2333 Abs. 1 Nr. 4 BGB verlangt, dass die Tat in besonderem Maße den familiären Wertvorstellungen und dem Ansehen des Erblassers widerspricht. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn die Straftat gegen den Erblasser selbst oder eine ihm nahestehende Person gerichtet war.
- Vorsätzlichkeit und Strafmaß: Für eine Pflichtteilsentziehung reicht ein „natürlicher Vorsatz“ aus, sodass keine besondere Schuldform oder Zurechnungsfähigkeit erforderlich ist. Maßgeblich sindder persönliche Vorsatz des Pflichtteilsberechtigten und die Schwere der Tat.
- Individuelle Abwägung: Das Gericht prüft im Einzelfall, ob die Nachlassteilhabe für den Erblasser aus Sicht der persönlichen Bindung unzumutbar war. Insbesondere ist zu berücksichtigen, ob die Tat eine schwere Missachtung des Eltern-Kind-Verhältnisses oder eine Verletzung familiärer Solidarität darstellt.
Im Kern entschied das OLG Hamm, dass die Unzumutbarkeit der Nachlassbeteiligung nicht pauschal, sondern individuell zu bewerten ist. Es genügt nicht, dass der Pflichtteilsberechtigte eine schwere Straftat begangen hat; die Tat muss auch den persönlichen Wertvorstellungen des Erblassers gravierend widersprochen haben. Eine allgemeine „Regelvermutung“ der Unzumutbarkeit bei bestimmten Straftaten lehnte das Gericht ab.
Im konkreten Fall führte das Gericht aus, dass die Verurteilung wegen schweren Raubes für sich genommen nicht ausreichend war, um die Teilhabe am Nachlass als unzumutbar zu betrachten. Es fehlte an zusätzlichen Umständen, die eine solche Schlussfolgerung gerechtfertigt hätten, wie beispielsweise ein unmittelbarer Bruch in der Beziehung zum Erblasser nach der Tat.
3. Besondere Anforderungen bei Jugendstrafen
Da der Kläger im Fall des OLG Hamm zum Tatzeitpunkt minderjährig war und das Jugendstrafrecht Anwendung fand, betonte das Gericht die besondere Bedeutung der erzieherischen Maßnahmen im Jugendstrafrecht. Eine Verurteilung zu einer Jugendstrafe genügt nicht automatisch, um die Unzumutbarkeit zu bejahen, da das Ziel des Jugendstrafrechts primär erzieherisch und weniger repressiv ist.
4. Wirkung und Konsequenzen der Pflichtteilsentziehung
Die Pflichtteilsentziehung führt dazu, dass der betreffende Abkömmling vom Nachlass ausgeschlossen wird.
Entferntere Verwandte können ggf. in den Genuss eines Pflichtteils treten, wenn sie zuvor durch diesen Abkömmling ausgeschlossen waren (§ 2309 BGB). Beispiel: Entzieht die Erblasserin ihrer Tochter den Pflichtteil und hat die Tochter wiederum eine Tochter – Enkelin der Erblasserin – rückt diese Enkelin in die vormalige Pflichtteilsberechtigung der Mutter ein.
In der Entscheidung des OLG Hamm wurde abschließend festgestellt, dass die Pflichtteilsentziehung aufgrund der Umstände des Falls nicht gerechtfertigt war, da die Straftat zwar schwerwiegend war, jedoch keine dauerhafte und grobe Verletzung der familiären Bindungen und Verpflichtungen aufwies.
Fazit
Die Entscheidung des OLG Hamm zeigt, dass die Entziehung des Pflichtteils eine präzise und differenzierte Abwägung erfordert. In Fällen wie schweren Straftaten ist es entscheidend, dass die Umstände der Tat und die Beziehung zwischen dem Erblasser und dem Pflichtteilsberechtigten individuell betrachtet werden. Unsere Kanzlei berät Sie gerne zu Fragen der Pflichtteilsentziehung und unterstützt Sie bei der rechtssicheren Formulierung von Verfügungen von Todes wegen.