Pflichtteil auf Schenkungen vor Heirat/Geburt

Der Pflichtteilsberechtigte kann einen Pflichtteilsergänzungsanspruch auch bezüglich Schenkungen geltend machen, die der Erblasser – bei Abkömmlingen – vor der Zeugung oder Geburt des Pflichtteilsberechtigten oder – bei Ehegatten – vor der Heirat tätigte. Dies entschied der Bundesgerichtshof mit Urteil vom 23. Mai 2012, Aktenzeichen IV ZR 250/11, und änderte so seine bisherige Rechtsprechung.

Beispiel:

Erblasser Hans verschenkt 2011 sein Hausgrundstück an seinen Sohn Daniel. 2012 lernt er Andrea kennen und heiratet sie 2013. 2014 bekommt Andrea von ihm ein Kind, Lisa. 2015 verstirbt Hans und hinterlässt nichts. Ehefrau Andrea und Tochter Lisa können jeweils bei Daniel Zahlung eines Pflichtteilsergänzungsanspruches wegen des geschenkten Grundstückes verlangen, obwohl zum Zeitpunkt der Schenkung Hans und Andrea noch nicht verheiratet waren und Lisa noch nicht gezeugt und geboren war.

Der BGH führt zur Begründung seiner Entscheidung aus:

a) Der Pflichtteilsergänzungsanspruch der Kläger bezieht sich auch auf solche unentgeltlichen Zuwendungen, die der Erblasser vor ihrer Geburt vorgenommen hat. Demgegenüber setzt der Anspruch nicht voraus, dass die Pflichtteilsberechtigung sowohl im Zeitpunkt des Erbfalles als auch schon zur Zeit der Schenkung bestanden hat, – sogenannte Theorie der Doppelberechtigung (so bisher Senatsurteile vom 21. Juni 1972 – IV ZR 69/71, BGHZ 59, 210, 212 ff.; vom 25. Juni 1997 – IV ZR 233/96, ZEV 1997, 373 unter I 3; so auch OLG Köln ZEV 2005, 398; LG Dortmund ZEV 1999, 30; Palandt/Weidlich, § 2325 Rn. 4; Keller, ZEV 2000, 268, 269 f.; Bestelmeyer, FamRZ 1998, 1152, 1155-1157). Seine dem entgegenstehende Rechtsprechung gibt der Senat auf.

Für den Pflichtteilsergänzungsanspruch kommt es allein auf die Pflichtteilsberechtigung im Zeitpunkt des Erbfalles an (so auch MünchKomm-BGB/Lange, 5. Aufl. § 2325 Rn. 7-10; Staudinger/Olshausen, BGB [2006] § 2325 Rn. 64, 66; Erman/Schlüter, BGB 13. Aufl. Vorb. §§ 2325-2331; Mayer in Bamberger/Roth, BGB 3. Aufl. § 2325 Rn. 3; Riedel/Lenz in Damrau, Praxiskommentar Erbrecht § 2325 Rn. 5-8; Muscheler, Erbrecht Bd. II Rn. 4217-4224; ders. ErbR 2010, 246, 247 ff. v. Lübtow, Erbrecht I S. 592; Brox/Walker, Erbrecht 24. Aufl. Rn. 562; Lange/Kuchinke, Erbrecht 5. Aufl. § 37 X 5a); Kipp/Coing, Erbrecht 14. Aufl. § 13 III 2; Siebert, NJW 2006, 2948, 2949 f.; Otte, ZEV 1999, 31; ders. ZEV 1997, 375; Tiedtke, DNotZ 1998, 85, 87 ff.; Schmidt-Kessel, ZNotP 1998, 2, 4 f.; Reimann, MittBayNot 1997, 299; Reinicke, NJW 1973, 597; vermittelnd unter anderem Pentz, MDR 1997, 717, 718 f.; FamRZ 1999, 488, 489, der darauf abstellt, ob für den Erblasser im Zeitpunkt der Schenkung absehbar war, ob mit weiteren Pflichtteilsberechtigten zu rechnen sei).

b) Dies rechtfertigt sich aus folgenden Überlegungen:

aa) Dem Wortlaut des § 2325 Abs. 1 BGB lässt sich nicht entnehmen, dass es für die Pflichtteilsberechtigung nicht nur auf den Erbfall, sondern auch auf den Zeitpunkt der Schenkung ankommt (vgl. Staudinger/Olshausen aaO Rn. 64; Erman/Schlüter aaO; Siebert aaO; Tiedtke aaO 86 f.). Die Vorschrift gewährt dem Pflichtteilsberechtigten einen Ergänzungsanspruch, wenn der Erblasser einem Dritten eine Schenkung gemacht hat. Für die Pflichtteilsberechtigung und den daraus resultierenden Anspruch ist hiernach allein der Zeitpunkt des Erbfalles maßgebend.

bb) Hierfür spricht auch die Entstehungsgeschichte des Gesetzes. So sah § 2009 des Ersten Entwurfs zum BGB noch ausdrücklich vor, dass der Pflichtteilsberechtigte bereits zur Zeit der Schenkung vorhanden und pflichtteilsberechtigt war (vgl. Protokolle V S. 585-587; zur Entstehungsgeschichte Muscheler aaO Rn. 4217; Schmidt-Kessel aaO 2; Tiedtke aaO 89). Die Mehrheit der Kommission lehnte indessen nach intensiver Erörterung die zunächst vorgesehene Einschränkung ausdrücklich ab. Unter anderem heißt es (Protokolle V S. 586 f.):

„… Die Zeit der Schenkung zu Grunde zu legen, ist keineswegs nothwendig. Der richtige Gedanke sei der: ein bestimmter Theil des Nachlasses solle nach dem Willen des Gesetzgebers den nächsten Angehörigen gesichert werden. Damit nun nicht dieser Theil des Kapitals, auf welchen die Familie mehr oder minder angewiesen sei, verloren gehe, gewähre das Gesetz gegen solche Schenkungen, die das Recht der Pflichttheilsberechtigten thatsächlich vereiteln würden, eine Art Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. …

Eine Unbilligkeit gegen den Erblasser oder den Beschenkten könne nicht zugestanden werden, denn der Beschenkte, welcher nach § 2016 nur auf den Betrag seiner Bereicherung hafte, verdiene weniger Rücksicht und sei auch in anderen Fällen in seinem Erwerbe weniger gesichert, der Verfügungsfreiheit des Erblassers aber stehe das Recht der Familie gegenüber…“

cc) Dem steht eine etwaige Veränderung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse seit dem Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches nicht entgegen (so noch Senatsurteil vom 21. Juni 1972 aaO 212-214). Es ist nicht einsichtig, warum sich diese Änderung weg von einer Gesellschaft, die im Wesentlichen noch von der Landwirtschaft und der bäuerlichen Wirtschaft geprägt gewesen ist, auf die Frage auswirken soll, ob die Pflichtteilsberechtigung schon im Zeitpunkt der Schenkung bestanden haben muss oder nicht (Reinicke aaO). Ausweislich der Entstehungsgeschichte des Gesetzes spielten die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse keine entscheidende Rolle dafür, dass die Mehrheit der Kommission sich ausdrücklich gegen das Erfordernis entschied, die Pflichtteilsberechtigung müsse bereits im Zeitpunkt der Schenkung bestanden haben (vgl. Protokolle V S. 586 f.; ferner Pentz, MDR 1997, 717).

dd) Gegen die „Theorie der Doppelberechtigung“ spricht ferner der Sinn und Zweck des Pflichtteilsergänzungsanspruchs. Grundgedanke des Pflichtteilsrechts ist die Mindestteilhabe naher Angehöriger am Vermögen des Erblassers. Diese sollen an den von ihm während seines Lebens geschaffenen Vermögenswerten durch einen schuldrechtlichen Anspruch in Höhe der Hälfte ihres gesetzlichen Erbrechts partizipieren. Um eine Verkürzung dieses Teilhabeanspruchs zu verhindern, hat der Gesetzgeber den Pflichtteilsanspruch hinsichtlich des konkret beim Erbfall vorhandenen Nachlasses um den Pflichtteilsergänzungsanspruch wegen erfolgter Schenkungen gegen den Erben bzw. Beschenkten nach §§ 2325, 2329 BGB ergänzt. Hierfür ist es unerheblich, ob der im Erbfall Pflichtteilsberechtigte schon im Zeitpunkt der Schenkung pflichtteilsberechtigt war oder nicht (so auch MünchKomm-BGB/Lange aaO Rn. 8; Staudinger/Olshausen aaO; Muscheler aaO Rn. 4219; Schmidt-Kessel aaO 5; Siebert aaO 2950; Otte, ZEV 1997, 375; Reinicke aaO 598; Tiedtke aaO 88 ff.).

ee) Ohne Bedeutung ist bei dem hier zur beurteilenden Pflichtteilsergänzungsanspruch von Abkömmlingen, dass derjenige, der erst nach der Schenkung pflichtteilsberechtigt geworden sei, beim Erblasser nie andere Vermögensverhältnisse kennengelernt habe als diejenigen, die nach der Schenkung vorhanden gewesen seien (so Senatsurteil vom 21. Juni 1972 aaO 215 für einen erst nach der Schenkung pflichtteilsberechtigt gewordenen neuen Ehegatten). Auch bei nichtehelichen Kindern, Kindern geschiedener oder getrennt lebender Eltern sowie allgemein jungen Kindern, kann es im Einzelfall so sein, dass sie nie in der Lage gewesen sind, eine Vorstellung von den Vermögensverhältnissen des Erblassers zu entwickeln und sich in diese einzuleben. Waren diese Kinder im Zeitpunkt der Schenkung geboren, so steht ihnen gleichwohl ein Pflichtteilsergänzungsanspruch zu (so auch OLG Köln ZEV 2005, 398). Warum für nach der Schenkung geborene Kinder etwas anderes gelten soll, ist sachlich nicht zu erklären.

Zudem sind subjektive Elemente wie Kenntnis und Eingewöhnung des Pflichtteilsberechtigten in die Vermögensverhältnisse des Erblassers sowie fehlende oder bestehende Absicht der Pflichtteilsverkürzung durch den Erblasser bei Schenkungen vor Entstehen der Pflichtteilsberechtigung der Vorschrift des § 2325 Abs. 1 BGB fremd. Auch auf irgendeine Art von Benachteiligungsabsicht, wie sie etwa für § 2287 BGB vorausgesetzt wird, kommt es bei der Pflichtteilsergänzung nicht an.

ff) Das Erfordernis der Pflichtteilsberechtigung nicht nur im Zeitpunkt des Erbfalles, sondern schon bei der Schenkung führt ferner zu einer mit Art. 3 Abs. 1 GG nicht zu vereinbarenden Ungleichbehandlung von Abkömmlingen (vgl. Staudinger/Olshausen aaO Rn. 66; Muscheler aaO Rn. 4220; Tiedtke aaO 94; Reimann aaO; Otte, ZEV 1997, 375; Reinicke aaO 600; Schmidt-Kessel aaO 4 f.; Bamberger/Mayer aaO; Riedel/Lenz Rn. 7). Hat der Erblasser mehrere Kinder und sind einige im Zeitpunkt vor der Schenkung sowie einige danach geboren, so werden letztere hinsichtlich des Pflichtteilsergänzungsanspruchs ungleich behandelt. Das verstößt gegen den Grundsatz des § 1924 Abs. 4 BGB, wonach Kinder zu gleichen Teilen erben. Ein nach Art. 3 Abs. 1 GG sachlich gerechtfertigter Grund für eine derartige Ungleichbehandlung der Kinder besteht nicht. Ihre Pflichtteilsberechtigung beruht nicht auf einem eigenen Dispositionsakt, sondern lediglich auf ihrer Geburt. Geht es um eine Mindestteilhabe am Vermögen des Erblassers, kommt eine Differenzierung zwischen den Abkömmlingen danach, ob sie vor oder nach der Schenkung geboren wurden, nicht in Betracht.

Die Zufälligkeit der Ergebnisse auf der Grundlage der Theorie der Doppelberechtigung zeigt sich anschaulich im vorliegenden Fall. Die Beklagte und der Erblasser hatten vier Kinder, von denen im Zeitpunkt des Erbfalles noch drei lebten. Die Mutter der Kläger war 1984 vorverstorben. Zwar ist der genaue Zeitpunkt sämtlicher Schenkungen des Erblassers an die Beklagte nicht bekannt. Soweit es aber etwa um eine Grundstücksschenkung des Erblassers an die Beklagte aus dem Jahr 1975 geht, steht fest, dass die Mutter der 1976 und 1978 geborenen Kläger zu diesem Zeitpunkt noch lebte. Wäre sie nicht danach verstorben und hätte den Erblasser wie ihre drei Geschwister überlebt, so hätte ihr ein Pflichtteilsergänzungsanspruch zugestanden. Wäre sie erst nach dem Erbfall verstorben, hätten die Kläger an diesem Pflichtteilsergänzungsanspruch ihrer Mutter, sei es als Erben, sei es ihrerseits als Pflichtteilsberechtigte, partizipiert. Für den Pflichtteilsergänzungsanspruch kann es aber nicht darauf ankommen, ob die Mutter der Kläger noch vor dem Erbfall verstorben ist oder erst danach. Dies führte zu einer ungerechtfertigten Benachteiligung des Stammes der Kläger und ihrer Mutter gegenüber den anderen drei Kindern und unterliefe das Eintrittsrecht der Kläger nach § 1924 Abs. 3 BGB sowie die dort geregelte Erbfolge nach Stämmen (anders konsequent auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung Keller aaO 268 f.; Bestelmeyer aaO 1155 f.).

gg) Dem Rechtsgedanken des § 2325 Abs. 3 BGB lässt sich gleichfalls keine Rechtfertigung der Theorie der Doppelberechtigung entnehmen (so noch Senatsurteil vom 25. Juni 1997 aaO unter I 3 c). § 2325 Abs. 1 und 3 BGB haben unterschiedliche Regelungsgehalte. In Absatz 1 geht es darum, ob und unter welchen Voraussetzungen ein Pflichtteilsergänzungsanspruch in Betracht kommt. Hierzu gehört die Frage, ob der Pflichtteilsberechtigte diese Stellung bereits im Zeitpunkt der Schenkung innegehabt haben muss. Demgegenüber enthält § 2325 Abs. 3 BGB eine Schutzvorschrift für den Beschenkten, wonach mehr als zehn Jahre vor dem Erbfall zurückliegende Schenkungen unberücksichtigt bleiben sollen. Mit der Frage der Pflichtteilsberechtigung dem Grunde nach befasst sich diese Vorschrift demgegenüber nicht (vgl. auch Tiedtke aaO 92; Schmidt-Kessel aaO 4; Reinicke aaO 598 f.). Insoweit ist die Grundentscheidung des Gesetzgebers zu berücksichtigen, der Beschenkte „verdiene weniger Rücksicht“ (Protokolle V S. 587).

(BGH, Urteil vom 23.05.2012 – IV ZR 250/11 –, BGHZ 193, 260-268)

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